Fingerspitzengefühl ist gefragt
Als Mohamed Ben Sulayem am 17. Dezember 2021 von der FIA Generalversammlung mit fast zwei Drittel der Stimmen zum neuen FIA Präsidenten gewählt wurde, war das umstrittene Formel 1 Finale, das die Weltmeisterschaft 2021 in der allerletzten Runde der Saison 2021 zugunsten von Max Verstappen entschieden hatte, gerade einmal vier Tag her. Und Sulayem wurde mit dem Fall-Out der letzten Skandal-Runden von Abu Dhabi direkt konfrontiert: Sowohl der Sieger der F1-Konstrukteurs-Weltmeisterschaft Mercedes als auch der (zumindest laut eigener Sichtweise) um seinen 8. WM-Titel „betrogene“ Lewis Hamilton blieben aus Protest der FIA-Gala fern, auf der traditionell die Meister der abgelaufenen Motorsport-Saison geehrt werden. Natürlich wurde der gerade neugewählte FIA-Präsident Sulayem gefragt, wie er diesen Boykott von Mercedes und Lewis Hamilton kommentiere und antwortete: „Wenn Hamilton mit seiner Abwesenheit gegen FIA-Statuten verstoßen hat, muss er sanktioniert werden.“
Dies wird dem schmollenden Lewis Hamilton überhaupt nicht gefallen haben. Aber Hamilton schweigt seit dem WM-Finale und es ist dem neuen FIA-Präsidenten Sulayem hoch anzurechnen, dass er versucht hat, mit Hamilton in Kontakt zu treten. Allerdings hat der siebenfache F1-Weltmeister auf die Kontaktversuche von Mohamed Ben Sulayem bislang nicht reagiert. Dabei kann Sulayem nichts für die Vorkommisse von Abu Dhabi. Er war zur Zeit der WM-Entscheidung noch nicht gewählt, er hatte keinen Einfluss auf die Rennleitung und ist insofern nichts anderes als ein neutraler Beobachter, dem direkt nach seiner Wahl ein sportpolitischer Scherbenhaufen vor die Tür gelegt wurde, den er jetzt zusammenfegen muss. Insofern hätte es sich aus Sicht von Hamilton sehr wohl gehört, auf die Kontaktversuche Sulayems zu reagieren.
Ein echter „Petrol-Head“
Ist der Fall Hamilton das Problem des neuen FIA Präsidenten? Auf den ersten Blick natürlich nicht. Aber der Fall erfordert erhebliches Fingerspitzengefühl und zeigt, wie breit das Aufgabengebiet eines FIA Präsidenten ist. Mohamed Ben Sulayem ist der Nachfolger illustrer und in der Öffentlichkeit prominenter FIA-Funktionäre wie Jean Todt, Max Mosley, Jean Marie Balestre und Paul Alfons Fürst von Metternich-Winneburg. Er ist zudem der erste Nichteuropäer, der auf diesen prestigeträchtigen und mächtigen Posten gewählt wurde.
Wer Sulayem kennt, weiß, dass der aus den Arabischen Emiraten stammende Ex-Rallye-Fahrer ein echter „Petrol-Head“ ist, also Benzin im Blut hat. Er holte beispielsweise 2009 die Formel 1 nach Abu Dhabi und saß als Präsident des Motorsport-Verbandes seines Landes seit 13 Jahren im Weltrat, der obersten Motorsport-Behörde.
Sulayem kennt also den Rennsport, er weiß wie Rennfahrer „ticken“ und man kann ihm zutrauen, sehr wohl mit Fingerspitzengefühl an den Fall Hamilton heranzugehen. Er ist bestimmt kein Poltergeist, wie es Jean Marie Balestre in den 1980er Jahren war, der mit despotischen Zügen den Motorsportverband leitete und alles andere als beliebt war. Er ist auch kein emotionsloser Anwalt und Technokrat, wie es sein Vorvorgänger Max Mosley war. Wenn man ihn mit einem seiner Vorgänger überhaupt auch nur annähernd vergleichen möchte, dann wohl am ehesten mit Jean Todt, seines Zeichens ebenfalls ein Racer, der als Rallye-Copilot sein Sporen verdiente, später das Peugeot-Team leitete und seine größten Erfolge als Ferrari-Rennleiter feierte – 5 WM-Titel mit Michael Schumacher.
Der Einfluss des Mittleren Osten wächst
Ben Sulayem stammt aus einer der reichen Familien der Arabischen Emirate. Er ist dadurch finanziell unabhängig und seine Wahl setzt nur einen Trend fort, den man seit einiger Zeit beobachtet: der Einfluss des Mittleren Ostens auf den Welt-Motorsports wächst stetig. Drei F1 Rennen im arabischen Raum in dieser Saison (Bahrain, Saudi Arabien und Abu Dhabi), ab 2023 kommt Katar als viertes Rennen wie bereits 2021 zurück – und der saudische Ölfonds Aramco ist einer der größten F1-Sponosren, Bahrain ist Anteilseigner an McLaren.
Hintergrund: Die Scheichs nutzen die Formel 1 als weltweite Werbe-Plattform und die Wahl Mohamed Ben Sulayems gibt dem Motorsport im Mittleren Osten einen weiteren Motivationsschub. Auch in der FIA beginnt man, die Handschrift Ben Sulayems zu erkennen. Er möchte einen F1-Geschäftsführer einstellen, die technische Kommission, die die FOM eingesetzt hatte, um das ab 2022 geltende F1-Reglement zu entwickeln, wird in die FIA integriert und die Vorkommnisse des WM-Finales werden bis zum 3. Februar untersucht. Wo sind Fehler passiert? Wer ist verantwortlich? Wie wird Sorge dafür getragen, dass sich derart kontrovers diskutierte Maßnahmen, die die WM-Entscheidung beeinflussen, nicht wiederholen können?
Nüchterne Analyse gefordert
Mohammed Ben Sulayem wird der breiten Öffentlichkeit sehr schnell ein Begriff sein, je nachdem wie die Affäre rund um Lewis Hamilton ausgeht. Sollte der Brite mit den Ergebnissen der FIA-Untersuchungen unzufrieden sein und wirklich seine Karriere beenden, wird dies hohe Wellen in der weltweiten Öffentlichkeit schlagen. Lewis Hamilton hat die Formel 1 seit vielen Jahren geprägt und dominiert. Gelingt es Sulayem, die Lage zu entschärfen und Hamilton zu beruhigen, stünde er als genialer Diplomat da. Wie gesagt: gefordert ist eine ideale Mischung aus Fingerspitzengefühl, Einfühlen in die Seele eines Rennfahrers, nüchterne Analyse der Vorkommnisse von Abu Dhabi und das Ziehen der richtigen Schlüsse daraus. Mercedes-Sportchef Toto Wolff sagte in Interviews nach Abu Dhabi: „Die Wunden der letzten Runde von Abu Dhabi sitzen tief und werden sich nicht so leicht schließen. Die Aktion ist vergleichbar mit dem Wembley-Tor von 1966 oder Maradonas ‚Hand Gottes‘ im Fußball.“
Umso wichtiger ist, dass die Formel 1 diese Affäre überwindet und nach vorne schaut. Der Zeitpunkt für einen Schnitt ist ideal: 2022 beginnen alle Teams im Rahmen des neuen Reglements bei „Null“. Der neue FIA-Präsident hat es in der Hand, dass auch der Abu Dhabi Skandal in der neuen Formel 1 zu den Akten gelegt werden kann.